„Wir müssen Künstliche Intelligenz in der Pädagogik mitdenken"
Künstliche Intelligenz – vor allem in Form von Large Language Models wie Chat-GPT – ist für jeden und jede leicht zugänglich. Doch das bleibt nicht ohne Folgen. Je einfacher Informationen zugänglich sind, desto weniger könnten wir dazu geneigt sein, Expertise zu entwickeln. Und desto mehr bräuchten wir eigentlich davon. Manuel Ninaus vom Institut für Psychologie an der Uni Graz spricht im Interview darüber, welche Chancen KI für uns bereithält und wie wir sie lohnend in den Unterricht integrieren können.
Kürzlich haben Sie – gemeinsam mit mehreren Mitautoren - einen Artikel in der renommierten Zeitschrift „Educational Psychology Review“ publiziert, in dem Sie sich mit den Potenzialen und Herausforderungen von KI in der Bildung auseinandersetzen. Welche Probleme sind aus Ihrer Sicht damit verbunden, wenn Schüler:innen oder auch Erwachsene KI-Tools wie Chat-GTP nutzen?
MANUEL NINAUS: Wir haben uns speziell mit der Nutzung generativer KI auseinandergesetzt, also mit KI, die nach Eingabe eines Prompts zum Beispiel Texte oder Bilder erzeugt. Solche Tools sind niederschwellig zugänglich – vor allem, weil sie kostenlos sind. Wie wir wissen, erzeugen generative KI-Tools aber nicht nur Inhalte, die wahr sind, sondern die Tools halluzinieren auch gerne vor sich hin. Damit Nutzer:innen identifizieren können, was Halluzinationen oder Falschinformationen sind, und was nicht, benötigen sie eine gewisse Expertise. Nur dann können sie diese Tools nutzbringend einsetzen. Die Gefahr liegt darin, dass ich mich als Nutzer:in schnell darauf verlasse, dass die Inhalte richtig sind, weil sie plausibel klingen. Ich laufe Gefahr, dass ich dem Trugschluss aufsitze, dass ich keine Expertise benötige. Und ich nehme mir dadurch selbst die Möglichkeit des Expertise-Aufbaus, und damit die Freude am Tun. Genau darin liegt die Herausforderung.
Können Sie ein konkretes Beispiel für eine solche Expertise nennen?
Das hängt von der Disziplin ab. Es gibt zum Beispiel methodische Lehrbücher. Diese muss ich lesen, um die Methode zu verstehen. Um die Methode anwenden zu können, muss ich sie üben. Und fürs Üben brauche ich ein gewisses Maß an Motivation. Wenn ich aber dieselben Inhalte von der KI auf dem Silbertablett serviert bekomme, verliere ich die Motivation zum Üben.
Aber ist es nicht auch ein Vorteil, wenn man sich mithilfe von KI gewisse Arbeitsschritte ersparen kann? Schaffe ich dadurch nicht Raum für wichtigere Aufgaben?
Das führt zur Frage, welche Lehrinhalte man überhaupt beibehalten möchte. Bestimmte Dinge kann man natürlich sehr gut an die KI auslagern. Früher musste man in der Statistik den P-Wert manuell bestimmen, was sehr aufwändig war. Heute ist das nicht mehr notwendig, da es eigene Tools dafür gibt. Um mit dem P-Wert umgehen zu können, braucht man aber immer noch die nötige Expertise. Und es braucht das Bewusstsein, dass man diese Expertise mitbringen muss.
"Diese Technologien sind nicht aufzuhalten. Sie zu verbannen oder von außen zu kontrollieren hat keinen Sinn."
Was bedeutet das für den Unterrichts-Kontext?
Aktuell lässt sich schwer abschätzen, was die Perspektiven für den pädagogischen Kontext sind, weil diese Tools noch viel zu neu sind. Jedenfalls sind diese Technologien nicht aufzuhalten. Sie zu verbannen oder von außen zu kontrollieren hat keinen Sinn. Sondern man muss sich Gedanken machen, wie man sie am besten in den Unterricht integrieren kann.
Welche Möglichkeiten sehen Sie dafür, KI in den Unterricht zu integrieren?
Wir glauben, dass wir Menschen dazu motivieren sollten, zu üben und Wissen aufzubauen, damit sie die nötige Expertise entwickeln. Ein möglicher Weg führt übers Spielen. Spiele sind dazu geeignet, wichtige psychologische Bedürfnisse zu erfüllen – wie Kompetenz, soziale Eingebundenheit und Autonomie. Erlebt man diese drei Dinge, steigert das die Motivation. Zusätzlich besagt die Selbstbestimmungstheorie von Richard M. Ryan – er ist Mitautor unseres Artikels -, dass die intrinsische Motivation extrem wichtig fürs Lernen ist. Und intrinsische Motivation bedeutet, dass man die jeweilige Aktivität mag und gerne ausführt. Eine Spielumgebung kann all diese genannten Punkte sehr gut zusammenführen, sofern sie gut gestaltet ist. Spiele sind dann gut gestaltet, wenn sie unterschiedliche Lösungswege bieten und wenn sie gutes Feedback liefern, also wenn sie den Spieler:innen all die genannten Bedürfnisse erfüllen. Bei solchen Spielen wird das Lernen selbst zur Belohnung.
Spiele sind außerdem ein „safe space“, also ein sicherer Raum, in dem Nutzer:innen Fehler machen dürfen und sogar müssen, um zu lernen. Das Üben wird im spielerischen Rahmen viel motivierender wahrgenommen und die Spieler:nnen nehmen es auch positiver auf. Auch lässt sich durch Spielen das Langzeit-Engagement länger aufrechterhalten – Lernende beschäftigen sich länger mit einer Aufgabe, wenn sie Spielelemente enthält, als wenn sie keine enthält.
"Wir glauben, dass wir Menschen dazu motivieren sollten, zu üben und Wissen aufzubauen, damit sie die nötige Expertise entwickeln. Ein möglicher Weg führt übers Spielen."
Gibt es denn Spiele, die diese Anforderungen erfüllen?
Ein Paradebeispiel für ein gelungenes Spiel ist Minecraft. Das Spiel war ursprünglich als Unterhaltungsspiel gedacht, wurde aber dann zum Beispiel von der Bildungscommunity aufgenommen und modifiziert, um es zur Wissenschaftsvermittlung zu nutzen. Es wurden außerdem Taschenrechner programmiert oder die Welt von „Herr der Ringe“ nachgebaut. Und dann sieht man all diese positiven Dinge und fragt sich: Warum sehen wir das nicht häufiger an Schulen?
Woran liegt das tatsächlich? Warum sehen wir das nicht häufiger an Schulen?
Das liegt daran, dass die Entwicklung eines Spieles extrem kostenintensiv ist und es extrem schwierig ist, ein gutes Unterhaltungsspiel zu entwickeln. Und wenn man an Lernspiele im Speziellen denkt, ist das nochmals schwieriger. In diesem Bereich kommen in der Regel dann eher die Low-Budget-Lösungen zum Zug. Dazu kommt, dass auf der sozio-kulturellen Ebene das Potenzial fürs Lernen durch Spiele oft nicht so angesehen ist. Bücher sind für Schulen schlichtweg zugänglicher als Lernspiele.
"Und dann sieht man all diese positiven Dinge und fragt sich: Warum sehen wir das nicht häufiger an Schulen?"
Was kann man dem entgegensetzen? Wie lässt sich KI sinnvoll in den Unterricht integrieren?
Wir halten den Einsatz von KI im Unterricht für eine große Chance. Doch wir brauchen eine neue Pädagogik der Künstlichen Intelligenz. Gerade das spielbasierte Lernen bietet viele Möglichkeiten, den Herausforderungen entgegenzuwirken, vor die uns KI im Bildungskontext stellt. Man kann Lernende motivieren, Expertise aufzubauen und zu üben. Man kann sie motivieren, bessere Spiele zu entwickeln. Denn gewisse Aufgaben lassen sich gut an die KI auslagern - zum Beispiel die grafische Gestaltung der Spieloberfläche für eine erste Version des Spiels. Die KI liefert vielleicht keine perfekte Lösung, aber sicher eine, die sich herzeigen lässt. Man kommt dadurch schneller zu einer Lösung, die für Lernende attraktiv ist. Auch mit dieser Methode ist bereits eine Lernerfahrung verbunden, denn um das zu schaffen, muss man sich bereits mit den Prozessen auseinandersetzen – und Expertise aufbauen.
Schüler:innen oder Studierende aber auch Lehrkräfte können die KI auch dafür nutzen, ihre eigenen Lernmaterialien abzuändern und zu spielifizieren (Gamification und playful learning). Durch die Interaktion mit dem LLM lassen sich auch Ideen entwickeln und rascher umsetzen. Doch um diese Systeme gut nutzen zu können, muss man die entsprechende Expertise aufbauen. Das spielbasierte Lernen ist ein Weg dazu.
Welche Voraussetzungen müssen Lehrer:innen gegeben sein, damit sie diese Vision umsetzen können? Wie viel Expertise benötigen sie?
Wichtig wäre, dass nicht nur die Infrastruktur bereitgestellt wird, sondern dass das Thema bereits in der Ausbildung der Pädagog:innen verankert wird. Die Bestrebungen sind bei Lehrkräften ja grundsätzlich da, aber viele wissen nicht, wie sie das umsetzen könnten. Wenn es um die Umsetzung von Lernspielen geht, kann ich als Lehrer:in bestimmte Dinge an die KI auslagern. Das ermöglicht eine Lernerfahrung im Zuge der Spielentwicklung durch die leichte Interaktion mit der KI. Das setzt aber voraus, dass ich mich damit beschäftige, was ich eigentlich vermitteln will. Die KI hilft, Abkürzungen zu nehmen, aber natürlich müssen die Lehrer:innen gegenüber diesen Tools eine Offenheit mitbringen.
Wie wirken sich KI und LLM Ihrer Ansicht nach auf den Unterricht aus?
Wir sind zu Änderungen gezwungen, denn KI-Tools sind nicht aufzuhalten. Durch die niedrigen Opportunitätskosten werden sie auch genutzt. Jetzt geht es darum, mitzudenken, wie man LLM im Unterricht nutzen kann und wie sie sich in die Lehrpläne einbauen lassen. Vielleicht wäre es sinnvoll, bei der Leistungsbeurteilung in Zukunft weniger auf das Produkt zu schauen, als auf den Prozess. Das ist schwieriger und aufwändiger. Aber das Gute ist: Auch hierbei kann KI in Kombination mit Maschinellem Lernen Lehrer:innen helfen.