Über das Konzeptverständnis zum Klimawandel von Schüler:innen
Claudia Haagen-Schützenhöfer ist Universitäts-Professorin für Physikdidaktik an der Universität Graz. Sie ist die einzige in Physikdidaktik habilitierte Östererreicher:in. Vor Antritt ihrer Professur war sie 8 Jahre lang als Lehrerin in den Unterrichtsfächern Physik, Englisch, naturwissenschaftliches Labor und Projektmanagement an unterschiedlichen steirischen Gymnasien tätig.
Mit ihren über 200 wissenschaftlichen Publikationen aus den letzten 13 Jahren ist Claudia Haagen im Bereich der empirisch forschenden Physikdidaktik international exzellent ausgewiesen.
In einem aktuellen Forschungsschwerpunkt hat sie z.B. gemeinsam mit Kollegen Thomas Schubatzky (mittlerweile Universität Innsbruck) und Forscher:innen der Uni Bochum (Deutschland) ein Testinstrument entwickelt, das Concept-Inventory CCCI-422 zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels, das Aufschluss über das konzeptuelle Verständnis von Lernenden ab der 8. Schulstufe zu naturwissenschaftlichen Grundlagen des globalen Klimawandels geben kann.
Wenn man den medialen Diskurs rund um den Klimawandel verfolgt, gewinnt man den Eindruck, dass die Thematik sehr komplex ist und die Zusammenhänge auf den ersten Blick nur schwer erfassbar sind. Selbst Expert:innen sind sich oftmals uneins und kontroverse Ansichten zeichnen sich in der Medienlandschaft ab. Wie kann es unter diesen Bedingungen gelingen, Schüler:innen und allgemein junge Menschen evidenzbasiert an das Thema und an die naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels heranzuführen?
Claudia Haagen-Schützenhöfer: Klima und Klimawandel sind definitiv fachlich sehr komplexe Themen. Der Physikunterricht dreht sich typischerweise um lineare Kausalzusammenhänge à la „Wenn ich eine Kraft X ausübe, wirkt sich das auf die Bewegung eines Gegenstands so und so aus“. Schon solche Zusammenhänge sind für Schüler:innen nicht immer so einfach zu verstehen, zu verinnerlichen und anzuwenden. Klima ist generell ein komplexes System, weshalb es auch nicht DIE eine Lösung für die Herausforderungen gibt, die der aktuelle Klimawandel mit sich bringt. Es ist so gut wie nicht möglich, die gesamte Komplexität im Unterricht zu durchdringen. Aber auch Komplexität und Veränderlichkeit sind neben der Zuverlässigkeit Charakteristika von naturwissenschaftlichem Wissen und auch das sollen und müssen Schüler:innen verstehen, damit sie eben nicht der Wissenschaftsskepsis zum Opfer fallen und eigene Handlungsentscheidungen treffen können. Zentral im Kontext Klimawandel ist, dass Schüler:innen nachvollziehen können, dass sich die überwiegende Mehrheit von Klimawissenschaftler:innen, also über 97 %, sehr einig über die Ursachen des aktuellen Klimawandels sind - nämlich, dass dieser vom Menschen maßgeblich gemacht ist. Darüber herrscht weitestgehend Konsens, auch wenn Klimawandelleugner:innen über unterschiedliche Kanäle oftmals versuchen, uns Gegenteiliges glaubhaft zu machen.
Welchen Beitrag kann hier der Unterricht leisten, um den Schüler:innen das Erkennen von Fake News, Verleugnungsstrategien etc. zu erleichtern?
Claudia Haagen-Schützenhöfer: Wichtig ist, dass Schüler:innen grundlegende physikalische Konzepte verstehen, die den Klimawandel betreffen, um Argumenten von Klimawandelskeptiker:innen nicht auf den Leim zu gehen. Hier wird wirklich mit unglaublichen Mitteln gearbeitet und manipuliert. Auch über diese Fallstricke der verzerrenden und manipulierenden Darstellung von Wissenschaft und Wissenschaftler:innen, die vor allem auch durch soziale Medien befeuert werden, müssen Schüler:innen Bescheid wissen. Nur dann können sie diese Mechanismen erkennen und ihnen fachlich fundiert etwas entgegensetzen. Gemeinsam mit meinem Kollegen, Thomas Schubatzky, forsche ich in diesem Bereich. 2020 haben wir eine Untersuchung mit österreichischen Jugendlichen zu Klimawandel-Desinformationen durchgeführt – in Anlehnung an eine Studie mit Erwachsenen in den USA. Dabei wurde die sogenannte „Oregon Petition“ verwendet. Dabei handelt es sich um eine Desinformationskampagne mit dem Ziel, die Öffentlichkeit über Erkenntnisse der Klimawissenschaften und den wissenschaftlichen Konsens über die menschenverursachte globale Erwärmung zu verwirren. Es wurde so getan, als würde die Petition, die über 31.000-mal unterschrieben wurde, von Expert:innen unterstützt werden, die die Existenz menschenverursachten Klimawandels verneinen. Bei genauerer Analyse zeigte sich dann, dass Wissenschaftler:innen mit einschlägiger Expertise nur im Promillebereich vertreten waren, aber dafür viele Unterstützter mehrfach unterschrieben haben und auch Spaßeinträge, wie die Spice Girls, Charles Darwin (1882 verstorben) oder Charaktere aus Star Wars, unter den Unterschreibenden waren.
Übrigens sind sich die über 1.000 von uns befragten Jugendlichen sehr einig darüber, dass der aktuelle Klimawandel von Menschen verursacht ist. Auf die Frage, wie einig sich Wissenschaftler:innen diesbezüglich sind, unterschätzen die Jugendlichen den Konsens innerhalb der Scientific Community deutlich.
Ab welcher Schulstufe sollten und können sich Schüler:innen mit dem Thema “Klimawandel” im Unterricht auseinandersetzen?
Claudia Haagen-Schützenhöfer: Da der Großteil der österreichischen Schüler:innen das formale Schulsystem nach der 9. Schulstufe verlässt, war es meinem Kollegen, Martin Hopf von der Uni Wien, und mir bei der Entwicklung des neuen Lehrplans für die Sekundarstufe I ein großes Anliegen, das Thema „Klima und Klimawandel“ prominent unterzubringen. Schüler:innen sollten bereits in der Unterstufe ein grundlegendes Verständnis über die fachlichen Konzepte und Mechanismen entwickeln können und die Möglichkeit erhalten, über das zu diskutieren, was sie in diesem Zusammenhang beschäftigt. Der Physikunterricht sollte sie dazu befähigen, unterschiedliche Positionen kritisch zu reflektieren und eine eigene Perspektive in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen, aber auch individuelle Handlungsoptionen aufzeigen, also was jede:r Einzelne:r beitragen kann.
Durch Initiativen und Bewegungen wie "Friday for Future" und die "Letzte Generation" scheint das Interesse von jungen Menschen am Klimawandel stark gestiegen zu sein – vor allem auch daran, wie sich dieser für die eigene Generation auswirkt. Mit großem Engagement machen sie medienwirksam auf die Folgen aufmerksam und fordern ein rasches Handeln von Politik und Gesellschaft, um das Voranschreiten des Klimawandels aufzuhalten. Welchen Einfluss haben diese Initiativen auf das Bewusstsein junger Menschen für den globalen Klimawandel und dessen naturwissenschaftlichen Grundlagen und Zusammenhänge?
Claudia Haagen-Schützenhöfer: Was Initiativen wie „Fridays for Future“ mit Jugendlichen machen und welches Engagement damit verbunden ist, ist wirklich bemerkenswert! Derartige Bewegungen rücken natürlich das Thema nicht nur bei den Jugendlichen stark in das Zentrum, sondern medial und damit auch gesamtgesellschaftlich. Die Rolle von Wissensvermittlung würde ich aber nicht vornehmlich bei diesen Bewegungen sehen wollen. Hier muss die Schule eine zentrale Verantwortung übernehmen. Wie schon erwähnt, haben die Jugendlichen bei unserer Replikationsstudie z.B. den Konsens über anthropogenen Klimawandel innerhalb der Scientific Community maßgeblich unterschätzt. Dieser wahrgenommene Konsens zu einem Thema ist aber ein ganz zentraler Faktor für die öffentliche Wahrnehmung – das haben wir unter anderem während der Covid-Pandemie erlebt. Da sind wir auch wieder bei der wichtigen Rolle der Schule, die die Schüler:innen grundbilden muss, damit sie über ein inhaltliches Basisverständnis verfügen, und verstehen wie Wissenschaft funktioniert. Aber auch um über Einstellungen Bescheid zu wissen, damit eine faktenorientierte, reflektierte Teilnahme am öffentlichen Diskurs möglich ist.
Lässt sich im Vergleich zu früheren Generationen im Unterricht ein Wissenszuwachs in diesem Bereich verzeichnen?
Claudia Haagen-Schützenhöfer: Was das Wissen über Klima und den Klimawandel betrifft, können wir nicht sagen, ob und wie sich dieses verändert hat, da es keine Vergleichserhebungen gibt. Studien aus dem deutschsprachigen Raum zeigen aber, dass Schüler:innen nicht wirklich gut aufgestellt sind in diesem Bereich. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass dieses Thema kaum in den Lehrplänen vorkommt, wissen sie eigentlich mehr als man erwarten würde. Natürlich lässt sich anekdotisch an der Anzahl von Initiativen, an der medialen Präsenz oder auch an der Nachfrage nach Unterrichtsmaterialien oder Fortbildungen zu dem Thema schon abschätzen, dass es großes Interesse und großen Bedarf bei Lehrer:innen und auch bei den Schüler:innen gibt. In unserer persönlichen Wahrnehmung hat sich hier in den letzten Jahren sehr viel getan. Allerdings beziehen Schüler:innen das Wissen zum Thema Klimawandel überwiegend aus den sozialen Medien und weniger über die Schule.
Die Corona-Pandemie, ökonomische Instabilität und der Klimawandel – Schüler:innen wachsen spürbar in unsicheren Zeiten auf. Vor allem auch die Auswirkungen des globalen Klimawandels stellen eine Herausforderung dar, die es zu bewältigen gilt. In den (sozialen) Medien findet man hierzu leicht zugänglich Informationen, die nicht immer der Wahrheit entsprechen. Wie beeinflussen (soziale) Medien die Vorstellungen von Schüler:innen zum Klimawandel und ihre Handlungsbereitschaft?
Claudia Haagen-Schützenhöfer: Soziale Medien haben in Summe einen enormen Einfluss auf Schüler:innen. Wir wissen, dass digitale und soziale Medien eine der Hauptreferenzquellen junger Menschen sind. Die Neuerung, die Digitalität bringt, dass eigentlich jede:r nicht nur die Möglichkeit hat, am Diskurs zu partizipieren, sondern auch in die Rolle des Creators schlüpfen kann, hat naturgemäß und bekannterweise auch negative Effekte. Die typische Route von Wissenschaftsvermittlung – von der Wissenschaftler:in über Wissenschaftsjournalist:innen, die eine Art Gatekeeper-Funktion erfüllen, – in die Öffentlichkeit -, funktioniert nicht mehr. Soziale Medien fungieren hier quasi als Bypass, was die Vermittlung herausfordernd macht. Dieses Verständnis von Digitalität im Sinne von Referenzialität, Algorithmizität und gesellschaftlicher Teilhabe, brauchen Schüler:innen, damit sie kritisch und reflektiert an der digitalen Wissensgesellschaft teilnehmen können. Da reicht es nicht aus, Schulen mit Endgeräten auszustatten. Da braucht es gut vorbereitete Lehrkräfte. Im Projekt ProDigiTrans entwickeln wir gerade solche Lerngelegenheiten für (angehende) Naturwissenschaftslehrkräfte.
Sie haben gemeinsam mit Forscher:innen ein Testinstrument entwickelt, das Concept-Inventory CCCI-422, das das konzeptuelle Verständnis der naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels bei Schüler:innen erheben soll. Was hat Sie und Ihre Kolleg:innen dazu bewogen, dieses Projekt ins Leben zu rufen?
Claudia Haagen-Schützenhöfer: Wir haben 2019 mit der Idee gestartet, nachdem wir bei einer internationalen Konferenz mit einem Kollegen einer deutschen Universität beschlossen haben, dass auch wir als Forscher:innen ganz konkret einen Beitrag zu diesem Thema und einer nachhaltigen Klimawandelbildung leisten wollen. Aktionismus hilft uns hier ja nicht weiter. Klimawandelbildung, wenn sie wirken soll, muss auf Forschungsergebnissen aufbauen. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass die Entwicklung eines psychometrisch verlässlichen Testinstrumentes relativ komplex und aufwändig ist. Typischerweise, um sich das leichter vorstellen zu können, kann man sagen, dass eine solche Entwicklung den Umfang eines Dissertationsprojekts einnimmt, also ca. 3-4 Jahre.
Was ist das Concept Inventory (CCCI-422)?
Claudia Haagen-Schützenhöfer: Das Concept Inventory (CCCI-422) ist ein Multiple-Choice-Testinstrument mit 36 Items, das das Verständnis von Schüler:innen und Lehramtsstudierenden in fünf Themenbereichen abfragt. Diese sind Wetter & Klima, Klima als System, Kohlenstoffkreislauf, Treibhauseffekt und Atmosphäre. Bei der Auswahl der Themenbereiche haben wir uns auf die bisherige Forschungslage gestützt und Interviews mit Klimaexpert:innen aus Österreich und der Schweiz geführt. Bisher wurde das Instrument an etwa 800 Schüler:innen und 50 Physiklehramtsstudierenden getestet. Es zeigt sich, dass kein angemessenes Verständnis zu fachlichen Grundlagen des Klimawandels vorhanden ist. Aktuell nutzen wir diese Erkenntnisse der Testerhebungen in einer Kooperation mit der Universität Innsbruck, bei der im Rahmen einer Dissertationsarbeit unter anderem erste Unterrichtsbausteine für die Unterstufe forschungsbasiert entwickelt werden.
Welche Ziele verfolgt diese Studie?
Claudia Haagen-Schützenhöfer: Wir haben das Testinstrument entwickelt, um belastbare Evidenzen zu erhalten, wie das Verständnis der fachlichen Grundkonzepte von Schüler:innen, aber auch Lehramtsstudierenden, zum Thema Klima und Klimawandel ist, wie man dann entsprechend dieser Voraussetzungen den Unterricht aufbauen muss und wie gut entwickelte Materialien funktionieren. Ich kann das gar nicht oft genug sagen: Wir brauchen, wenn es um Lernvoraussetzungen und Lernprozesse geht, empirische Evidenzen. Das ist in anderen Bereichen ganz selbstverständlich, aber im Schul- und Bildungswesen noch nicht bei allen Beteiligten angekommen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine Beinverletzung und anstatt z.B. ein Röntgen oder dergleichen anfertigen zu lassen, würde Sie die Ärztin oder der Arzt gleich operieren oder einen Gips anlegen, ohne Sie vorab umfassend untersucht zu haben und ohne auch zu einem späteren Zeitpunkt eine Nachuntersuchung durchzuführen. Diese Vorgehensweise würden Sie höchstwahrscheinlich als wenig seriös einstufen. Umgelegt auf Schule und Bildung, werden in diesem Bereich oftmals Materialien, Methoden oder Workshops etc. entwickelt, ohne dass man sich die Ausgangssituation oder die initiierten Lernprozesse selbst mit belastbaren Methoden ansieht. Am Ende des Workshops z.B. gehen dann alle heim und sind glücklich, weil ja etwas passiert ist. Ob die Lernprozesse auch wirklich so wie intendiert gelaufen sind und was nachhaltig dabei herausgekommen ist, das weiß man eigentlich selten so genau. Hier setzen wir als empirisch forschende Fachdidaktik an und stellen Lehrpersonen Konzepte zur Verfügung, die Hilfestellung bei der Entwicklung und Evaluierung von zielgerichteten Interventionen im Rahmen von Lernprozessen bieten.
Welchen Beitrag kann, Ihrer Meinung nach, jede:r Einzelne leisten, um dem Klimawandel entgegenzuwirken?
Claudia Haagen-Schützenhöfer: Aus meiner Sicht sind es zwei Bereiche, die hier zum Tragen kommen. Einerseits die Vermeidung und Reduzierung all der Dinge, von denen wir wissen, dass sie nicht klimafreundlich sind und einen großen ökologischen oder CO2-Fußabdruck hinterlassen, wie z.B. bei Transport und Mobilität, Energieeffizienz im Haushalt, Ernährung sowie beim Konsum. Andererseits über die aktive Auseinandersetzung mit der Thematik, indem man über den eigenen Tellerrand zu blickt, informiert bleibt und sich am öffentlichen Diskurs beteiligt – z.B. in der Gemeinde, in der man lebt oder auch im Freundes- und Bekanntenkreis. Klimawandel ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Folgen treffen uns alle, wie wir auch immer öfter erleben.