Begabungsforschung - Vom Potenzial zur Leistung
Begabungsforschung -
Roland H. Grabner über Mythen und Befunde aus der Begabungsforschung
Die Begabungsforschung ist eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die sich mit den Grundlagen und Auswirkungen menschlicher Begabungsunterschiede, der Entwicklung von Talenten bis zu Leistungsexzellenz und Möglichkeiten der Förderung von Potenzialentwicklung beschäftigt. Roland H. Grabner ist in Österreich der erste und bislang einzige Inhaber eines Universitätslehrstuhls für Begabungsforschung. Darüber hinaus ist er unter anderem Mitglied der ”International Research Collaborative for the Psychology of Talent Development (ICPT)", die kürzlich ein neues theoretisches Modell zur Talententwicklung vorgestellt hat, das nicht nur neue Impulse für die Forschung in diesem Bereich gibt, sondern auch als Rahmenmodell Praktiker/innen in der Begabungs- und Begabtenförderung unterstützen soll. In diesem Interview gibt Roland H. Grabner erste Antworten auf häufig gestellte Fragen zu Begabungen, Talenten und Potenzialförderung.
„Die Begriffe Begabung, Talent und Kompetenz werden im Alltagssprachgebrauch oftmals synonym verwendet. Eine begriffliche Abgrenzung erfolgt meist nur zur Hochbegabung. …. “
„Wie werden Begabung, Talent und Kompetenz aus wissenschaftlicher Sicht differenziert?”
Begabung wird häufig als das Leistungspotenzial definiert, das eine Person aufgrund ihrer genetischen Anlage mitbringt.
Von Talent wird hingegen dann gesprochen, wenn jemand in einem bestimmten Bereich bereits besondere oder überdurchschnittliche Leistungen zeigt. D.h. die Begabung wurde bereits (zum Teil) in Leistung umgesetzt. Beispielsweise würde man eine Person, die besonders gut Klavier spielt, als talentierte:n Klavierspieler:in bezeichnen.
Kompetenzen können als Überbegriff für systematisch erworbenes Wissen und Fertigkeiten in einem Bereich betrachtet wird. Im Gegensatz zum Talent, das sich auf besondere oder überdurchschnittliche Leistungen bezieht, deckt der Kompetenzbegriff das gesamte Leistungsspektrum ab.
„Wo endet die Begabung und wann beginnt die Hochbegabung?“
Ab wann von Hochbegabung gesprochen wird, ist ausschließlich eine Definitionsfrage. Bei der Intelligenz wird häufig als Kriterium ein IQ von 130 und höher herangezogen. Dies betrifft ca. 2,3 % der Bevölkerung. In anderen Definitionen wird Hochbegabung mit den besten 10 % gleichgesetzt.
„In welchem Zusammenhang stehen Begabung und Kompetenz?“
Kompetenzen werden durch systematisches Lernen aufgebaut; in vielen Fällen begleitet durch entsprechenden Unterricht in Bildungseinrichtungen. Wenn in einem Bereich eine hohe Begabung vorliegt (z.B. eine hohe sprachliche Begabung), können diese Kompetenzen in der Regel schneller erworben und auch höhere Leistungsniveaus erzielt werden.
„Wie entwickelt sich Kreativität? Welche Rolle spielt Kreativität in der Begabungsforschung?“
Kreativität ist eine von mehreren Begabungsfacetten und spielt in vielen Bereichen eine sehr wichtige Rolle.
Entgegen einem verbreiteten Mythos, dass alle Kinder hochkreativ auf die Welt kommen und die Schule sie zunehmend unkreativer macht, konnte gezeigt werden, dass kreative Ideen und Produkte eine umfangreiche Wissensbasis erfordern. Je mehr Wissen vorhanden ist, desto eher kann dieses in origineller Weise verbunden werden. Dementsprechend nehmen kreative Leistungen durch den Wissensaufbau in der Schule zu und nicht ab.
„Braucht es ein 'kreatives' Umfeld, um Potenziale optimal (weiter)entwickeln zu können?“
Für alle Begabungsfacetten (z.B. intellektuell, musikalisch, sozial-emotional, motorisch) gilt, dass es ein förderndes Umfeld benötigt, damit sich aus den Potenzialen Leistungen entwickeln. Kreativität wird oft hervorgehoben, da sowohl in Schule als auch im Beruf kreative Ideen oder Ansätze häufig nicht wertgeschätzt werden. Hierzu gibt es auch zahlreiche Sammlungen von “Killerphrasen” wie z.B. “Das haben wir schon immer so gemacht.” oder “Die Tradition verlangt das so.”.
„'Ohne Fleiß kein Preis' - unsere leistungsorientierte Gesellschaft suggeriert, dass man mit entsprechendem Einsatz ('Fleiß') alles ('Preis') erreichen kann. Begabung und Talente scheinen hier nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. ….“
„Verfügen aus Sicht der Begabungsforschung alle Menschen über die gleichen Potenziale?“
Genauso wenig wie alle Menschen die gleichen genetischen Anlagen haben. Man kann davon ausgehen, dass die Potenziale jeder Begabungsfacette normalverteilt sind. D.h. die meisten Menschen verfügen über ein durchschnittliches Potenzial und weniger über ein geringeres und höheres. Psychologisch und pädagogisch wichtig ist die Betrachtung des individuellen Begabungsprofils, sodass Stärken gefördert und Schwächen reduziert werden können.
„Können Begabungen erlernt werden oder sind sie im Sinne von Potenzialen von Geburt an weitgehend vorgegeben?“
Wenn Begabungen als Leistungspotenziale definiert werden, setzt die genetische Ausstattung die Obergrenze des maximal Erreichbaren fest. Ob diese erreicht wird, hängt allerdings von der Umwelt ab. Wenn ein Kind eine hohe musikalische Begabung hat, aber in einer Umgebung aufwächst, in der diese Begabung nicht erkannt und gefördert wird, wird dieses hohe Potenzial sich nicht zu einem Talent bzw. hohen Leistungen entwickeln können.
„Müssen Begabungen gefördert, geübt und trainiert werden?“
Zweifellos. Wenn man es begrifflich genau nimmt, dann müssen nicht die Begabungen im Sinne von Potenzialen gefördert werden, sondern die Entwicklung von Leistungen aus diesen Potenzialen. Dies wird häufig auch als Talententwicklung bezeichnet. Die Sprichwörter “Es fällt kein:e Meister:in vom Himmel” und “Übung macht den:die Meister:in” entsprechen auch dem aktuellen Forschungsstand: Ohne Lernen und Übung können sich Talente nicht entwickeln.
„Welche Rolle spielt das soziale Umfeld (u.a. Eltern und Schule) beim Erkennen und der Förderung von Potenzialen?“
Die wichtigste. Um Begabungen erkennen und fördern zu können, müssen entsprechende Angebote gemacht werden. Erstens kann eine Begabung in einem Bereich (z.B. in der Musik) erst erkannt werden, wenn die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit diesem Bereich (z.B. durch Ausprobieren verschiedener Musikinstrumente) besteht. Zeigt sich z.B. bei jüngeren Kindern ein hohes spielerisches Interesse sowie eine hohe Leichtigkeit und Geschwindigkeit des Lernens, kann dies als Anzeichen einer Begabung in diesem Bereich gedeutet werden. Zweitens braucht es nach dem Erkennen der Begabung systematische Unterstützung bei der Entwicklung von Kompetenzen in diesem Bereich (z.B. durch einen Musikunterricht).
„Erfahrungsberichten nach äußert sich eine Hochbegabung bei Schüler:innen oftmals durch mäßige oder schlechte Schulleistungen, geringe Lern- und Leistungsmotivation, Schulverweigerung und Ähnlichem. Ein Verhalten, das man auf den ersten Blick nicht unbedingt mit einer Hochbegabung in Verbindung bringen würde. …“
„Woran können Eltern, aber auch Lehrpersonen erkennen, dass hinter dieser mäßigen Leistung (auch "underachievement") eine Hochbegabung liegt?“
Die intellektuelle Begabung kann über Intelligenztests geschätzt werden. Wenn das Intelligenzniveau von der Schulleistung abweicht, ist das ein Indikator für Underachievement. Darüber hinaus bedarf es einer genaueren Betrachtung der bisherigen Leistungen und des sozialen Umfelds, um andere Gründe für schlechte(re) Schulleistungen und geringe Motivation feststellen zu können.
„Brauchen Hochbegabte andere Lernumgebungen, um ihr hohes Leistungspotenzial voll ausschöpfen zu können?“
Zum Teil können Hochbegabte durch eine entsprechende Gestaltung (z.B. differenzierter Unterricht) im regulären Schulunterricht gefördert werden. Darüber hinaus sind Maßnahmen zum schnelleren Durchlaufen des Curriculums (z.B. Klassen überspringen, Absolvierung von Kursen an Hochschulen) und zusätzliche Angebote (z.B. außerschulische Kurse, Sommerakademien) zielführend.
„In der Fernsehserie 'Young Sheldon' beeindruckt der neunjährige Sheldon Cooper mit seinem außerordentlichen Schulleistungen das Publikum, zeigt aber im Umgang mit seinen Mitschüler:innen Auffälligkeiten und gilt als Außenseiter - ein Bild das von Film und Fernsehen oftmals von Hochbegabten ('Genies') gezeichnet wird. … “
„Ist eine Hochbegabung überwiegend eine Inselbegabung?“
Im Gegenteil. Intellektuell hochbegabte Personen zeigen in der Regel bei Aufgaben aus verschiedenen Bereichen sehr gute Leistungen. Um Leistungsexzellenz zu erreichen, bedarf es schließlich einer zunehmenden Spezialisierung.
„Weisen Hochbegabte immer auch Defizite im sozialen und/oder emotionalen Bereich auf?“
Dies ist ein weit verbreiteter Mythos. Mittlerweile liegen umfangreiche Längsschnittstudien über mehrere Jahrzehnte vor, die klar zeigen, dass es keinen Zusammenhang zwischen Hochbegabung und sozialen/emotionalen Defiziten gibt. Diese kommen bei Hochbegabten und durchschnittlich Begabten ähnlich häufig vor.
„Wenn man einen Blick auf aktuelle Stellenausschreibungen wirft, begeben sich immer mehr Unternehmen auf die Suche nach Talenten, die ihre Potenziale in das jeweilige Berufsfeld einbringen. …“
„Lässt sich ein Zusammenhang zwischen Talent und Berufsfeld herstellen?“
Für Erfolg in einem Berufsfeld bedarf es bestimmter Begabungsprofile. Eine stark ausgeprägte numerisch-mathematische Begabung ist bspw. für einen technischen Beruf wichtiger als für eine:n Schriftsteller:in.
„Welche Rolle spielen Begabungen bei der Berufswahl?“
Diese sollten neben Interessen jedenfalls berücksichtigt werden. Begabungen zeigen einen höheren Zusammenhang mit dem Berufserfolg als Interessen. D.h. wofür wir uns interessieren, ist oftmals nicht das, wofür wir begabt sind. Insbesondere bei jungen Menschen fluktuieren Interessen noch stark und werden von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst. Mit zunehmendem Alter kommt es zu einer gewissen Anpassung von Interesse und Begabung. Wir erkennen, worin wir erfolgreich sind und entwickeln schließlich eine höhere Motivation und ein größeres Interesse daran.
Univ.-Prof. Mag. Dr.rer.nat. Roland Grabner
Institut für Psychologie
http://psychologie.uni-graz.at/de/begabungsforschung/team/roland-h-grabner/