„Man braucht nicht nach Panama zu gehen, um in eine fremde Welt einzutauchen!“
Wie kommunizieren gehörlose Migrant:innen in Österreich? Mit dieser Frage hat sich die Sprachwissenschafterin und Gebärdensprachforscherin Julia Gspandl in ihrer Dissertation befasst. Und dabei Überraschendes herausgefunden.
„Wie machen gehörlose Migrant:innen das, dass sie die österreichische Gebärdensprache lernen? Das war für mich die grundlegende Frage“, sagt Julia Gspandl vom „treffpunkt sprachen“ an der Universität Graz. Kürzlich wurde ihre Dissertation zu diesem Thema approbiert. Der Titel: „The languaging practices and competencies of deaf migrants in Austria“. 12 erwachsene Migrant:innen hat sie dazu interviewt. Sie alle leben in Graz – mindestens seit vier Monaten, längstens seit 22 Jahren. Vier von ihnen waren geflüchtet, die weiteren migrierten aus unterschiedlichen Gründen nach Österreich. „Wegen der Liebe, zum Beispiel“, sagt die junge Sprachwissenschafterin, die durch Zufall mit der Gebärdensprachenforschung in Kontakt kam. „Irgendwie bin ich da hineingerutscht - über einen Freund, der mit gehörlosen Menschen zu tun hatte. Die Gebärdensprache hat mich so fasziniert, dass ich einen ersten Sprachkurs am ‚treffpunkt sprachen‘ besucht habe.“ Im Sprachwissenschaftsstudium wurde aus der Faszination schließlich eine Spezialisierung. „Das soziale Element der Minderheitensprachen hat mich sehr angesprochen“, sagt Julia Gspandl.
Die Antworten auf ihre zentrale Frage leitet die Nachwuchsforscherin aus ihren Forschungen ab, die sie im Rahmen ihrer Dissertation durchführte. „Es spielen viele Faktoren eine Rolle. Beispielsweise mischen die Migrant:innen Gebärden aus ihren Ursprungsländern in die österreichische Gebärdensprache. Oder sie erfinden neue Gebärden aus dem Kontext heraus.“
Julia Gspandl ist im Forschungsnetzwerk Future Education Mitglied im Cluster "Sprachen als Werkzeug für gesellschaftliche Teilhabe".
Denn die Gebärdensprachen sind, entgegen der weit verbreiteten Annahme, nicht weltweit einheitlich, sondern es gibt ebenso wie bei Lautsprachen sowohl Dialekte als auch Fremdsprachen. Wie schwierig es ist, eine Zweit-Gebärdensprache zu erlernen, hänge, so Julia Gspandl, vom persönlichen Ausgangspunkt ab. Wer zum Beispiel aus Deutschland nach Österreich komme, lerne die österreichische Gebärdensprache leichter als wenn die Ursprungssprache die japanische Gebärdensprache sei. Eine weitere Gebärdensprache zu erlernen sei dabei ähnlich aufwändig wie eine neue Fremdsprache in Lautsprache zu erlernen. „Die Gebärdensprachen sind ähnlich komplex, ähnlich unterschiedlich und ähnlich schwierig zu lernen wie die Lautsprachen“, betont Julia Gspandl.
Migrant:innen lernen die österreichische Gebärdensprache üblicherweise nicht in Sprachkursen - keine einzige der befragten Personen hatte einen solchen besucht -, sondern in ihrem privaten Umfeld. „Sie lernen viel von ihren Bekannten, von ihren Partner:innen und von ihren Kindern, die österreichische Gebärden aus der Schule mit nachhause bringen.“
Eine wesentliche – und die vielleicht überraschendste – Erkenntnis aus ihrer Dissertation bezog sich auf das Alter des Erstsprachenerwerbs. „In der Forschung herrscht die Theorie vor, dass das Alter, in dem man die erste Gebärdensprache erlernt, beeinflusst, wie gut man weitere Gebärdensprachen erlernt. Diese Theorie hat sich aber in dieser Studie nicht bestätigt“, betont Julia Gspandl. „Es könnte sein, dass der Umstand, ob man überhaupt zuvor eine andere Gebärdensprache gelernt hat, für den Zweit-Gebärdenspracherwerb wichtiger ist, als wie früh man damit begonnen hat. Das Alter, in dem man als Kind die erste Gebärdensprache erlernt, hat sehr wohl einen Einfluss darauf, wie gut man diese erste Sprache beherrscht. Nicht aber, wie gut man als Erwachsener weitere Gebärdensprachen erlernt.“
"Das Alter, in dem man als Kind die erste Gebärdensprache erlernt, hat sehr wohl einen Einfluss darauf, wie gut man diese erste Sprache beherrscht. Nicht aber, wie gut man als Erwachsener weitere Gebärdensprachen erlernt."
Es habe sich gezeigt, dass Menschen, die mehr Erfahrung darin haben, in internationalen Settings zu gebärden, auch die österreichische Gebärdensprache leichter erlernen. „Die Interviewten hatten ein höheres Kompetenzlevel als erwartet. Sie lernen die österreichische Gebärdensprache sehr gut. Das lässt sich möglicherweise darauf zurückführen, dass sie bereits Anknüpfungspunkte an ihre erste Gebärdensprache hatten.“
Aus diesen Erkenntnissen zeige sich, wie wichtig es ist, dass gehörlose Kinder eine Gehörlosenschule besuchen. „Je mehr gebärdensprachlichen Input die gehörlosen Teilnehmer:innen als Kind von ihren Freund:innen erhalten haben, desto höher war langfristig ihre Kompetenz in der österreichischen Gebärdensprache.“ Zwar sei es unter anderem für die soziale und kognitive Entwicklung durchaus auch wichtig, wenn hörende Eltern von gehörlosen Kindern die Gebärdensprache erlernen und sie ihren Kindern vermitteln. „Doch besonders wenn es um spätere Fremdsprachkompetenzen geht, könnte die Schule in dieser Hinsicht noch viel wichtiger sein“, sagt Julia Gspandl.
Analog zeige sich das auch im Erwachsenenalter. Hier hat das Arbeitsumfeld einen großen Einfluss auf die sprachlichen Fähigkeiten. „Die gehörlosen Migrant:innen, die in ihrer Arbeit gebärden können, weil sie etwa durch Dolmetscher:innen unterstützt werden oder gehörlose Kolleg:innen haben, gebärden deutlich besser Österreichische Gebärdensprache als jene, die diese Möglichkeit nicht haben.“
Auch in ihren beruflichen Alltag kann Julia Gspandl diese Erkenntnisse gut integrieren. Bei der Firma „capito“, die Texte in leicht verständliche Sprache überträgt, arbeitet sie an der Entwicklung verschiedener Produkte mit. „Es gibt schon eine inhaltliche Verbindung zwischen der internationalen Gehörlosenkommunikation und leicht verständlicher Sprache“, erklärt sie. „Von Gehörlosen in solchen Settings kann man sich Einiges darüber abschauen, wie man Information verständlich aufbaut. Welche Infos führe ich zum Beispiel zuerst wie ein, damit das Verständnis leichter fällt? Oder: Wie kann ich verschiedene Begriffe und Beispiele kombinieren, um mehr Klarheit zu schaffen?“ Und natürlich sei das Wissen, wie sich gehörlose Migrant:innen verständigen, relevant, wenn es darum geht, konkret für diese Zielgruppe Texte zu erstellen.
Überrascht hat Julia Gspandl auch, wie schnell Migrant:innen die neue Sprache erlernen und sich dadurch von ihrer Umwelt unabhängig machen. Bei einem Interviewten hat sie etwa beobachtet, dass er von seinem Sessel aufgestanden, zu einem Tisch gegangen und auf die Tischplatte gezeigt hat, um „Holz“ auszudrücken – so, dass aus dem Kontext heraus deutlich wurde, dass er nichts anderes meinen kann, er die ÖGS-Gebärde für „Holz“ aber nicht kennt. „Diese kreative Sprachverwendung, in der der Sprecher den üblichen Gebärdenraum verlässt, um sich verständlich zu machen, hört überraschend schnell auf.“ Solche bildhaften Gebärden, die auf der unmittelbaren Umwelt beruhen, seien nicht mehr nötig, sobald der Sprachgebrauch an Effizienz gewinnt. „Die gehörlose Community mit ihrer Gebärdensprache ist einfach spannend. Das ist eine ganz andere Welt“, betont Julia Gspandl. „Man braucht nicht nach Panama zu gehen, um in eine fremde Welt einzutauchen. Das geht auch in Graz!“
Ihr aktuell größter Wunsch? „In der Forschung zu bleiben. Es gibt noch so viele offene Fragen!“
"Die gehörlose Community mit ihrer Gebärdensprache ist einfach spannend. Das ist eine ganz andere Welt."
BA. Dr.phil. MA. Julia Gspandl
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Treffpunkt sprachen - Zentrum für Sprache, Plurilingualismus und Fachdidaktik